Die Wurzeln der Zeit

Die Wurzeln der Zeit

Die Nacht roch nach feuchter Erde und altem Papier, als Elias das Tor der verlassenen Forschungsstation aufstieß. Das Schild „Institut für Ethnobotanik, Außenstelle 3“ hing schief im Rahmen; der Regen hatte die Buchstaben so lange ausgewaschen, bis sie aussahen wie verwischte Erinnerungen. Er stellte seine Tasche ab, wischte die Tropfen von seinem Notizbuch und lauschte dem Tropfenkummer der Dachrinne, die irgendwo in der Tiefe des Hofes in einen Schemen aus Moos und Stein mündete.

Er war nicht wegen der Gebäude gekommen, nicht wegen der verrosteten Geräte. Er war gekommen, weil die Berichte aus dem Dorf unten im Tal sich wiederholten wie ein Refrain: Man habe eine Pflanze entdeckt, die Dinge „wisse“. Die Alten nannten sie Wurzelring, manche sagten Gedächtniswurzel. Einer hatte ihm, mit der behutsamen Ernsthaftigkeit eines Mannes, der sich nicht traut, den Mond beim Namen zu nennen, versichert, sie merke sich Gesichter.

Elias war Botaniker. Und obwohl er gelernt hatte, zu trennen — Namen von Gefühlen, Präparate von Geschichten — war er auch der Enkel jener Frau, die ihm als Kind von Pflanzen erzählt hatte, die Menschen nicht aßen, sondern an sich banden. „Manche Gewächse haben kein Maul,“ hatte sie gesagt, „also sprechen sie mit dem, was wir in der Erde lassen.“ Haare, Blut, Tränen. Es klang wie ein Märchen, bis der Fluss sein Dorf verschlungen hatte und die Menschen auf den Hügel flohen, und die Rückkehrer später schworen, im überspülten Garten die Stimme ihrer Toten gehört zu haben.

Die Station lag am Rand des Überflutungsgebietes, in einer kühlen Senke, in der der Nebel nachts in den Büschen hing wie der Atem eines schlafenden Tieres. Das Gewächshaus, ein Buckel aus Glas und Eisenrippen, trug im Inneren ein schwaches Leuchten: nicht Elektrizität — die war seit Jahren gekappt —, vielmehr etwas wie das Licht, das über altem Holz liegt, wenn man es lange streichelt. Elias schob die Tür auf. Sie knarrte, als widerstrebe ihr die Erinnerung.

Der Geruch im Inneren war anders. Nicht der saubere, vegetale Duft gezähmter Pflanzen, sondern etwas Mineralisches, ein wenig bitter und so sanft süß, dass ihm der Speichel zusammenlief. In einem der Beete, zwischen entkommenen Philodendren und dem vertrockneten Gerippe einer Kaffeepflanze, wuchs sie: kein Baum, keine Staude, eher eine Ranke, deren Glieder wie Kettenglieder aus fleischigem Gewebe ineinandergriffen. Ihre Blätter waren dünn wie die Haut über einem Handrücken, und in ihrer Zartheit schwammen feine Adern, als hätte jemand Landkarten darauf gezeichnet.

Er kniete nieder. Die Wurzel — er tastete mit einem Spatel die obere Schicht frei — verlief nicht in die Tiefe, sondern breitete sich flach aus, ein Netz von Ringen, die ineinander lagen wie Jahresringe nicht eines Baumes, sondern eines Ortes. Als er das Messer ansetzte, wehrte die Pflanze sich nicht; sie öffnete sich, als freue sie sich. Aus der Schnittstelle quoll ein Tropfen, klar wie Tränen und doch in der Lichtbrechung voller staubiger Farben. Er hielt die Pipette bereit, füllte ein paar Mikroliter in ein Glasgefäß, etikettierte es. Der Tropfen auf der Klinge blieb zurück, schimmerte wie ein letzter Gedanke.

Er hätte ihn abwischen, die Klinge reinigen und zu seinen Instrumenten zurückkehren können. Stattdessen roch er daran. Der Duft hob in ihm Bilder an, wie ein Wind, der eine Decke lüpft: Kinderfinger, die Ton zerdrücken; eine Männerstimme, die lacht und kurz darauf bricht; der Hechelgeruch eines Hundes an einem heißen Tag. Elias blinzelte. Der Tropfen zitterte. Bevor er nachdenken konnte — er bemerkte später, dass die meisten Entscheidungen, die das Leben verändern, nicht gedanklich sind, sondern eine Art Sinken —, streifte der Tropfen seine Lippe. Bitter, körnig, ein Hauch Salz. Er schluckte.

Das Gewächshaus blieb, was es war: Glas, Schatten, Tropfen. Und doch trat etwas heran. Kein Geräusch, eher ein Raumwechsel, als hätte man zwei Folien übereinandergeschoben und sähe nun beide. Elias stand auf, und als sein Blick an der Kaffeepflanze vorbeistreifte, war die Pflanze plötzlich grün, voller Blüten, und neben ihm lachte jemand. „Hör auf, Elias, du wirst die Früchte zu früh pflücken.“ Die Stimme war jung, warm und hatte diesen Ton, der aus Zuneigung Ungeduld macht. Er wirbelte herum. Das Gewächshaus war leer. Aber dort, wo die Stimme in der Luft gehangen hatte, wogte der Schatten, als wäre jemand hindurchgegangen.

Er zwang sich zu einer Probe: Er schraubte das Glasgefäß auf, prüfte die Leitfähigkeit, die Viskosität, die Fluoreszenz unter UV. Was er sah, war unscheinbar und zugleich unmöglich: winzige Strukturen, die an dendritische Netze erinnerten, keine Zellen, eher Muster, als hätte das Sekret etwas erinnert und in mikroskopischer Spitzenschrift abgelegt. Er fotografierte sie, notierte: „möglicherweise speichert die Pflanze chemische Muster der Umgebung…“ Er brach ab. Das Wort „Umgebung“ war eine Feigheit. Was sie speicherte, war: Jemand.

Elias zog den Stuhl heran, setzte sich, nahm die Flasche Wasser, die er immer bei sich trug, und goss wenige Tropfen in ein Becherglas. Er gab ein paar Mikroliter des Pflanzensaftes dazu, rührte. Der Geruch der Mischung war nicht mehr nur bitter, er war voller Stimmen.

Er erinnerte sich an die Nacht, in der der Fluss das Dorf nahm. Nicht alles: genug, um eine Grenze zu ziehen. Sein Vater war in dieser Nacht hinausgegangen, weil das Wasser lauter wurde, und nicht zurückgekehrt. Niemand fand ihn. Die Großmutter hatte am Fenster gesessen und die Namen der Lebenden leise aufgezählt, damit sie nicht das Gewicht der Toten tragen mussten. Später lernte Elias Namen für das, was man nicht wissen kann: Zufall, Schicksal, hydrologische Modelle. Keine davon wärmte.

Er trank die Mischung. Nur einen Schluck. Es war, als öffnete sich eine Tür, die in keinen Raum führte, sondern in eine Folge von Räumen, die gleichzeitig da waren. Er sah das Dorf in der Dämmerung, die Läden offen, die Frauen schimpfend über nasse Wäsche, Kinder, die in Pfützen patschten. Er stand in seinem eigenen Kinderkörper, barfuß auf den warmen Fliesen in der Küche der Großmutter, roch das Brot. Und zugleich saß er im Gewächshaus, spürte das kalte Metall des Stuhls. Sein Herz schlug, und es antwortete ihm ein zweites, langsameres Herz, das irgendwann aufgehört hatte. „Hol mich aus dem Fluss“, dachte eine Erinnerung, die nicht seine war.

Die Stunden danach zerfielen in Schichten. Elias begann zu wandern — im Gewächshaus, im Dorf, in dem, was das Dorf gewesen war. Er legte die Hand auf eine eiserne Stütze, und sie fühlte sich an wie der Treppengeländerknauf im Haus des Schmieds; er sah durch das Glas und sah nicht die Nacht, sondern eine Hochsommermittagssonne, die Insekten als goldene Staubkörner tanzen ließ. Manchmal traten Menschen in diese Schichten: eine Frau mit Reishut und einem Lachen, das die Luft lockte; ein Junge, der mit Kreide Striche zog; ein alter Mann, dessen Rücken vom Tragen rund war. Sie bemerkten Elias nicht. Oder vielleicht bemerkten sie ihn und hielten ihn für einen Traum.

Als die Wirkung nachließ, war der Morgen grau, und die Nebel standen zwischen den Büschen wie eine schweigende Versammlung. Elias’ Hände zitterten. In seinem Mund lag der Geschmack von Metall und etwas wie Mohn. Er schrieb. Er schrieb den halben Tag. Namen, Bilder, Sätze. Die Sätze hatten den Drang, sich zu reimen, als wolle sich das, was erzählt wurde, selbst schließen.

Er kehrte in der zweiten Nacht zurück. Und der dritten. Er variierte die Konzentration. Er versuchte, die Herkunft der Bilder zu steuern — dachte an seine Großmutter, an seinen Vater, an die Flut. Es war, als füttere er die Pflanze mit Fragen, und sie gab ihm Antworten, die am Rand abrissen. Er trank, und manchmal hob eine fremde Hand die seine, manchmal legte sich eine fremde Müdigkeit in seine Knie. Er war Botaniker. Er wusste, was Abhängigkeit war, chemisch, strukturell, er konnte die Rezeptoren benennen. Und dennoch legte er die Theorie beiseite wie einen Mantel an einem Sommermorgen. Er wollte die Nacht wieder riechen, in der sein Vater noch Stimme war.

Die vierte Nacht brachte ihm etwas anderes. Er hatte zu viel getrunken, ungeduldig, vielleicht wütend. Die Schichten knirschten ineinander, nicht mehr als freundliches Übereinander, sondern als Zwang. Er sah seine Großmutter an einem Tisch sitzen und Nägel sortieren. Er sah zugleich, wie das Gewächshausdach unter einem Sturm ächzte, und hörte seinen eigenen Atem in der Glastür. Und dann trat eine Gestalt zwischen die Reihen der Pflanzen, blieb stehen, und zum ersten Mal sah ihn jemand an. Nicht durch ihn hindurch, nicht als hättest du eine Erinnerung in ein Aquarium gesetzt — nein, die Gestalt hob den Kopf, blinzelte, und in der Bewegung war der ganze Satz einer Jugend: ein Bursche, schmal und zu schnell gewachsen, das Haar an der Stirn klebte. „Elias?“, sagte er. Ob es ein Wort war oder die Erinnerung an ein Wort, wusste Elias nicht. Er konnte nur nicken. Sein Hals war zu eng. Die Gestalt lächelte so knapp, als hielte sie etwas zurück, dann hob sie die Hand, öffnete den Mund und spuckte Wasser auf den Boden. „Zu spät“, sagte sie. „Aber vielleicht nicht umsonst.“

Als er wieder zu sich kam, lag er auf den Fliesen, und seine Wange war kalt. Das Becherglas war umgekippt, die Flüssigkeit in einem Halbkreis im Staub versickert. Ein paar Tage später hätte er sein Protokoll vermutlich vernichtet, aus Scham über die Wissenschaft, die er verraten hatte. Stattdessen schrieb er präziser. Er schrieb, worunter die Ranke sich verbreiterte — in Richtung des Dorfes. Er dachte an die Worte seiner Großmutter, die Pflanzen, die mit dem sprechen, was wir in der Erde lassen. Das Dorf lag nicht mehr dort. Aber die Erde lag da. Das Wasser hatte sie geschüttelt, gestreckt, neu verteilt. Diese Pflanze — wie immer sie hierhergekommen war, eingeschleppt, eingewandert, geboren aus einem Samenkorn, das an einer Gummistiefelsohle haftete — lag auf einer Platte aus Gedächtnis.

Elias beschloss, die Wurzel zu verfolgen. Er löste, vorsichtig wie ein Archäologe, die oberen Schichten, folgte den Ringen, die in Richtung der Senke liefen, wo früher die Hauptstraße gewesen war. Er arbeitete tagelang, aß wenig, trank aus seiner Feldflasche, deren Metall nach der Pflanze schmeckte, auch wenn sie leer war. Manchmal sickerten ihm dabei Bilder durch die Finger: ein Paar, das einen Streit zu Ende stritt, den die Flut unterbrochen hatte; ein Kind, das nicht geborene Fragen stellte. Er lernte, die Finger zu schließen, wenn die Vergangenheit sich hineinlegen wollte. Er war nicht hier, um sich zu verlieren, sagte er sich. Er war hier, um zu finden.

Die Wurzel führte ihn schließlich an den Rand des Gewächshauses, unter eine gelockerte Kante, hinunter in den feuchten Boden neben der Mauer. Dort, in einem Becken aus Schlamm, quoll etwas wie eine Sickerquelle. Kein Bach, nur ein Austreten. Das Wasser schimmerte milchig, und auf seiner Oberfläche lagen hauchdünne Häutchen, die aussahen wie die Häute von Träumen, die man zu früh abstreift. Er schöpfte ein wenig in ein Reagenzglas. Es klang, als tropften Sekunden hinein.

Er wusste, dass er hier, wenn er weiterging, nicht als Botaniker zurückkehrte. Er wusste auch, dass niemand ihn dazu zwang. Aber er hatte inzwischen verstanden, dass manche Fragen in einem leben wie Fremdkörper, und dass man sie entweder herausschneidet oder zum Herzschlag macht. Er wählte den Herzschlag.

Er trank. Nicht viel. Genug, dass die Welt kippte, so wie ein Teller kippt, wenn man ihn anfasst und er beginnt, in der Luft zu balancieren. Zuerst war da der Fluss, dunkel und voller Dinge, die keine Namen mehr hatten. Dann die Hand seines Vaters, groß und sicher auf seinem Kopf. Dann das Geräusch eines fallenden Zweiges, das wie ein Schuss klang. Die Schichten schoben sich. Er stand am Ufer, Regen in den Augen, und die Strömung zerriss Kanten von Häusern, nahm Balken, nahm Hundegebell, nahm Stimmen. Ein Mann sprang. Ein Mann, sein Vater, sprang, weil irgendwo Jemand rief. Nicht er. Jemand. Er sah, wie die Strömung ihn unter das Gitter am alten Wehr zog, wie er ein letztes Mal auftauchte, wie er lachte — ja, er lachte; Elias bemerkte, dass er es nie so erinnert hatte —, und dann weg war. Die Erinnerung tat, was Erinnerungen tun: Sie ließ das Ende weg, behielt die Geste.

Elias kniete im Schlamm. Er weinte. Nicht die Art Weinen, die um Trost bittet, sondern eines, das wäscht. Es spülte ihm das Gesicht, und er roch, seltsam, die Großmutter. „Zu spät,“ hörte er die Stimme von der vierten Nacht, „aber vielleicht nicht umsonst.“

Er begann, die Ringe zu beschneiden. Nicht zu beschädigen, sondern zu bezeichnen. Er schnitt hauchdünne Scheiben aus den außenliegenden, stummen Bereichen, legte sie in Petrischalen, untersuchte ihre Muster. Es gab Ringe, die leer waren wie winterschlafende Tiere; es gab Ringe, die so voll waren, dass sie unter dem Mikroskop wie gesungene Linien wirkten. Er skizzierte eine Karte. Er nannte sie den Zeitgarten.

Und dann kam der Tag, an dem ein alter Mann an die Station klopfte. Er fand Elias zwischen Erde und Glas, eine Figur, die man in ein Märchen hätte setzen können: schmutzige Hände, klare Augen. „Ich habe gehört,“ sagte der Mann, „hier kann man trinken und sich erinnern.“ Elias nickte, zögerte, und nickte noch einmal. Er führte den Mann ins Gewächshaus. Er wusch eine kleine Schale, füllte sie mit Wasser, gab einen Tropfen hinzu. „Woran möchten Sie denken?“ Der Mann legte seine Finger um die Schale, als sei sie ein Tier. „An meine Frau“, sagte er, und die Luft hielt den Atem an. Er trank. Er schloss die Augen. Er lächelte. Seine Schultern sanken. Er weinte nicht. Als er ging, legte er eine getrocknete Blume auf das Beet, in dem die Ranke lag. „Für den Garten“, sagte er. „Damit er nicht verhungert.“

Es sprach sich herum. Die Station bekam Besucher, nicht viele, nie genug, um es laut werden zu lassen. Elias wählte die Konzentrationen. Er wählte die Ringe. Er musste lernen, „Nein“ zu sagen, wenn jemand das Unmögliche wollte: die Rückkehr eines Verlorenen, das Rückgängiggemachte. Er konnte ihnen nur zeigen, was war. Manchmal war das genug. Manchmal war es zu viel. Er begann, Regeln zu schreiben, nicht auf Papier, sondern in seinem eigenen Körper: nicht mehr als einmal pro Woche für sich selbst trinken; niemals dieselbe Erinnerung zweimal; nie nachts alleine am Sickerbecken sitzen, wenn die Nebel sich unter dem Glas sammeln.

Eines Abends kam ein Mädchen. Sie hatte die Schultern eines Rehs und den Blick eines Tieres, das an einer Großstadtstraße gelernt hat, über die Haube zu springen. „Ich möchte wissen, wie mein Vater gelacht hat“, sagte sie. „Ich war drei.“ Elias nickte. Er dachte an seinen eigenen Vater, an das gebrochene Lachen, das ihm die Pflanze gezeigt hatte, nicht als Ende, sondern als Mitte. Er wählte für das Mädchen einen Ring, der im Sommer gebildet worden war, als das Dorf nachmittags schlief. Er tropfte, rührte, reichte die Schale. Das Mädchen trank. Sie hob die Augen. Sie lachte. Für einen Moment sah sie aus, als hätte sie etwas, das sie nie hatte, kurz in der Hand gehalten. Dann war es vorbei. Sie bedankte sich und ging rückwärts zur Tür, als fürchte sie, einen Schatten zu verlieren, wenn sie sich umdrehe.

So wurde Elias der Gärtner eines Gedächtnisses, das ihm nicht gehörte. Und sein eigenes Gedächtnis? Es war nicht mehr dieselbe Landschaft. Die Ränder zwischen seinem Leben und dem Leben der Anderen hatten sich verschoben. Es gab Tage, an denen er die Kaffeeblumen roch und wusste, dass das nicht seine Erinnerung war. Es gab Nächte, in denen sein Vater im Gewächshaus stand, im Glas gespiegelt, und ihm nickte. Er begann, mit ihm zu sprechen, nicht in Bitten, sondern in Sätzen, die ein Sohn zu einem Vater sagt, der bleibt, weil man ihm einen Stuhl hinstellt und Wasser gibt.

In einem der ersten Herbststürme brach ein Ast vom Baum vor der Station und durchschlug eine Scheibe. Der Wind fuhr herein, riss Etiketten fort, stieß ein Becherglas um. Die Pflanze bebte. Elias reparierte die Scheibe in der Dämmerung, mit Händen, die fast nichts mehr außerhalb dieses Ortes taten. Als er die letzte Schraube anzog, fühlte er einen Stich in der Handfläche. Ein Splitter Glas hatte sie getroffen. Ein Tropfen Blut fiel in den Boden, in eine Ritze zwischen zwei Ringen. Die Pflanze zog, kaum merklich. Es war kein Zerren, eher ein Einatmen. Elias sah zu, wie sein Blut versickerte, dachte an die Großmutter, die Pflanzen ohne Maul, und lachte leise. „Schon gut“, sagte er. „Nimm. Aber nur eine kleine Notiz.“

In jener Nacht trank er nicht. Er setzte sich zwischen die Töpfe, hörte den Regen, der wieder angefangen hatte, und atmete mit der Pflanze. Er dachte an die Grenzen, die er bewahren musste, und daran, dass Grenzen keine Mauern sind, sondern Flussufer, die man pflegt, damit der Fluss nicht alles nimmt. Er wusste, dass er eines Tages gehen musste, oder bleiben. Beides war schwer. In der Ferne hörte er die Talstraße, ein Auto vielleicht, das die Kurven nahm, in denen die Verlorenen manchmal wie Erinnerungen an Laternenpfählen kleben bleiben.

Als der Morgen kam, ging er hinaus. Das Tal lag unter einem Tuch aus Nebel. Er wartete, bis die Sonne den Nebel dünn machte und die Konturen des Dorfes unter dem Grün der Neuzugewanderten sichtbar wurden: Weiden, die der Fluss hierher gesetzt hatte, wie Entschuldigungen. Elias hob die Hand, als grüße er jemanden, und es war keiner da. Oder viele. Er kehrte ins Gewächshaus zurück. Die Ranke lag da und leuchtete, ohne Licht zu machen.

Später, als die Jahre die Station wieder in einen Ort verwandelten, an dem Menschen stehen bleiben, weil es in ihnen stehen bleibt, hing an der Tür ein Schild: „Zeitgarten — Eintritt leise“. Die Leute brachten Brot, gelbe Blumen, eine alte Uhr, deren Klang die Pflanze mochte. Kinder liefen über die Fliesen und hinterließen helle Kreidespuren. Elias saß manchmal am Tisch und schrieb: nicht wissenschaftlich, nicht literarisch, eher wie einer, der Etiketten liebt, weil sie Dinge nicht festnageln, sondern mit einem Faden in einem dichten Teppich sichtbar machen.

Man sagte im Dorf, es gebe dort oben einen Mann, der die Zeit tränke. Das war nicht genau. Elias hatte nur gelernt, sie auf die Zunge zu legen, zu kosten, zu unterscheiden zwischen bitter und süß, zwischen dem, was man halten kann, und dem, was durch einen hindurch geht und trotzdem bleibt, wie der Geruch von Regen an einem Kleid, das man nachts auf die Lehne eines Stuhls legt.

An einem späten Abend, als das Licht am Rand des Waldes zu brennen schien, ohne Feuer zu sein, ging er ins Gewächshaus, beugte sich über die Pflanze und legte die Hand auf einen der inneren Ringe. Er hätte sie beschriften können: „Vater“. Er tat es nicht. Stattdessen sagte er leise, wie man es vor einem Schlafenden sagt: „Ich geh jetzt ein Stück.“ Er hatte lange nicht mehr getrunken. Er war nicht mehr hungrig danach. Nicht so. Die Pflanze war warm unter seiner Hand, als hätte sie Blut. Vielleicht hatte sie es. Vielleicht hatte sie das von ihm. Er stellte eine Schale vor sie hin, füllte Wasser hinein, ohne Tropfen, nur so, damit es schön ist, wenn etwas in der Nähe ist, das man liebt. Dann löschte er das Licht.

Draußen war der Fluss weiter Fluss. Drinnen war die Zeit weiter Zeit. Und irgendwo dazwischen — in der Wurzel, im Regen, in dem, was Menschen aneinander abgeben, ohne daran zu sterben — wuchs etwas, das man Hoffnung nennen konnte, wenn man das Wort mochte, oder einfach: eine Pflanze.

Verlassenes Gewächshaus bei Nacht, Ranke mit leuchtenden Ringen, Nebel und Tropfen – düster-poetische Atmosphäre