Das Zimmer aus Licht

Das Zimmer aus Licht

Es begann mit einem Geräusch, das keines war, eher ein feines Knistern an der Haut der Nacht, so leise wie das Atmen von Staub im Gegenlicht. Mara stand vor der Leinwand und mischte das Licht an, Schicht um Schicht – nicht als Farbe, sondern als Gedächtnis. Weiß mit einem Tropfen Honig, ein Hauch von Morgenhimmel, den sie aus dem Fenster pflückte. Die Stadt lag weit unter ihrer Wohnung wie eine abgelegte Jacke, und in den Fenstern der anderen Leute brannten die Geschichten derer, die nie zu ihr heraufkamen.

Sie malte seit Wochen denselben Fremden. Zuerst war da nur diese Ahnung eines Blicks, ein Schatten, der wie eine Erinnerung durch ihren Kopf ging. Dann die Konturen eines Gesichts, das nicht zu fassen war und doch im Herzen lag wie eine Muschel, die den Ozean bewahrt. Die Hände waren das Schwerste. Hände verraten alles. Sie ließ sie offen auf dem Schoß ruhen, als hielten sie etwas Unsichtbares, etwas, das man nur spürt, wenn man die Augen schließt.

„Wer bist du?“, flüsterte sie, und die Wände lauschten.

Das Atelier war klein, zu klein für die Sehnsucht, die in ihm stand wie ein zusätzlicher Mensch. Bücherstapel, Pinsel im Glas, das Wasser schimmernd wie der schmale Rest eines Mondes, der nicht mehr wusste, zu welcher Nacht er gehörte. Der Holzboden trug Spuren von Türkis, Elfenbein, warmem Siena; Spuren wie die Jahresringe eines Baumes. An der Fensterbank lag etwas Salz vom letzten Besuch am Meer. Mara hatte es mitgebracht, ohne zu wissen warum. Vielleicht, damit etwas in diesem Zimmer an Ebbe und Flut glaubte.

Sie malte weiter, bis das Licht hinter dem Fenster zu ändern begann. Die Stadt schob orange Flammen in die Wolken, als hätte jemand eine zweite Sonne vergessen. Mara trat zurück. Die Augen des Fremden blickten sie an, eine Spur traurig, eine Spur erstaunt, wie jemand, der zu spät zu einem Gespräch kommt, das ohne ihn begonnen hat.

„Noch nicht“, sagte sie und lächelte schmal. „Noch nicht.“

Nachts träumte sie von Treppen, die im Wasser endeten. Und jedes Mal stand er dort, der Fremde vom Bild, am letzten Tritt, die Schuhe in der Hand, als wollte er die Stille nicht beschmutzen. Morgens stand sie auf, aß kalt gewordenen Reis mit Zimt, öffnete das Fenster, als müsste sie der Wohnung Luft bringen wie einem kränkelnden Kind, und begann. Das Zimmer war ihr Körper, die Leinwand ihr Herz.

Am siebten Tag – oder dem siebenunddreißigsten, die Zeit hatte die Angewohnheit, sich zu verstellen wie ein Mantelkragen – begann das Bild zu leuchten. Nicht stark, nur so, als hätte es an den Rändern einen geheimen Sonnenaufgang. Mara blinzelte, legte den Pinsel ab, hob ihn wieder. Es gab kein elektrisches Licht, das flackern konnte, keine Reflexe, die so tanzten. Sie berührte die Leinwand nicht. Das hatte sie sich geschworen: nie berühren, was sie nicht verstand.

„Du bist da“, sagte sie leise, und es war nicht klar, ob sie zu ihm sprach oder zur Nacht.

Der Regen kam, ohne sich anzumelden. Er lief die Fensterscheiben hinunter wie Menschen, die sich in einer fremden Stadt beeilten, nicht nass zu werden. Der Regen hatte eine Art, die Geräusche der Welt zu löschen, bis man die Dinge im Innern lauter hörte. Maras Herz klopfte in einem Takt, den sie nicht kannte. Es war nicht das Klopfen vor einer Ausstellung, nicht das Klopfen vor einem Abschied. Es war das Klopfen, das sagt: da ist ein anderer Rhythmus, den du noch nie gelernt hast, und doch erinnerst du dich.

Sie setzte sich auf den Boden. Das Licht im Bild veränderte sich, war jetzt wärmer, als würde irgendwo in einem anderen Zimmer eine Tür geöffnet. Die Augen des Fremden schienen tiefer. Vielleicht hatte sie nur einen Schatten zu viel gesetzt. Vielleicht.

„Wenn du kommst“, flüsterte sie, „dann komm nicht wie ein Traum. Du weißt, wie Träume mich hinterlassen: mit Händen, die leer sind, und einem Mund, der nach deinem Namen schmeckt, den ich nie weiß.“

Es war, als antwortete das Bild mit einem kaum hörbaren Rascheln. Ein paar Sekunden später fiel eine Spinne an einem unsichtbaren Faden vom oberen Leinwandrand herab, pendelte zwischen Wand und Bild, und Mara musste lachen, weil sogar das Versehen des Lebens die Form eines Zeichens annahm. Sie stand auf, zündete eine Kerze an, obwohl Tag war. Ein Zimmer braucht manchmal Feuer, nicht, um zu wärmen, sondern um zu sammeln, was ihm gehört.

„Also gut“, sagte sie. „Ich stelle dir deinen Stuhl.“

Der Stuhl stand seit Jahren leer. Neben der Leinwand, nie benutzt. Ein Möbel, das wartete, und sie wusste nie, auf wen. Sie drehte ihn zur Leinwand, nahm die Decke, die nach Lavendel roch, legte sie über die Lehne. Dann setzte sie sich gegenüber und wartete mit.

Als die Kerze halb geworden war, hob der Mann im Bild – oder war es das Licht? – den Blick ein wenig, gerade so viel, dass der Raum die Luft anders hielt. Mara hörte das Tropfen des Regens, hörte ihre eigene Stille, hörte, wie die Zeit zuhörte.

„Ich habe dich erfunden“, sagte sie, ohne zu glauben, was sie sagte. „Aber das ist nicht das richtige Wort. Ich habe dich gefunden, glaube ich. In mir. Oder außerhalb von mir. Es ist nicht wichtig.“

Sie stand auf, trat näher. Ein feiner Zitronenduft lag in der Luft, als hätte der Pinsel zuletzt in etwas Frische getaucht. Ihre Finger wollten die Leinwand berühren, aber sie berührte stattdessen die Luft davor, als könnte sie eine unsichtbare Haut streicheln.

„Mara“, sagte jemand.

Es war eine Stimme, die nicht von draußen kommen konnte, denn die Welt draußen hatte die Angewohnheit, Namen achtlos zu werfen. Diese Stimme aber hob ihn auf und gab ihn ihr zurück, mit einer Zärtlichkeit, die alt war, älter als alle Gewohnheiten. Mara atmete einmal ein, hörte, wie das Holz knisterte, als würde es für sie knien.

„Du…“, sagte sie, und es war ein ganzes Buch in diesem Wort.

Er trat nicht aus dem Bild. Das wäre zu einfach gewesen, zu grob. Stattdessen tat das Zimmer etwas: Es verschob seine Wände um einen halben Atem, rückte das Licht an eine Stelle, an der es ihn tragen konnte, und plötzlich saß er auf dem Stuhl, als wäre er immer da gewesen und die Jahre hätten nur das falsche Licht gewählt, um ihn zu zeigen.

Er war kein Wunder. Oder vielleicht war er genau das, aber eines, das keine Fragen brauchte, um wahr zu sein. Sein Gesicht trug die Müdigkeit derer, die lange am Rand von etwas gewartet haben, das keinen Namen hatte, weil Namen zu scharf sind für weiche Dinge. Seine Hände, die Mara so lange nicht hatte fassen können, lagen offen in seinem Schoß, als hielten sie den Raum zwischen den Fingern.

„Ich weiß nicht, wie man das macht“, sagte Mara und musste lachen, weil es genau der Satz war, den sie als Kind beim ersten Fahrradfahren gesagt hatte, kurz bevor sie es doch konnte.

„Du machst es schon“, sagte er. „Du sitzt hier, und ich sitze hier, und das Zimmer ist aus Licht.“

„Wer bist du?“

Er senkte den Blick, nicht aus Scham, eher, um ihre Frage zu hören. „Ich bin der, den du gerufen hast, ohne zu rufen. Ich bin das Bild von mir, das du gemalt hast, und ich bin, was davor war. Es stimmt beides, und nichts davon verletzt das andere.“

„Und warum… warum jetzt?“

„Weil Sehnsucht ein Gefäß ist“, sagte er. „Und du hast es nicht mehr weggeräumt. Viele stellen es nachts in den Schrank. Du hast es auf den Tisch gestellt, Tag für Tag, und etwas ist hineingefallen, das mehr war als Luft.“

Mara spürte, wie eine Wärme in ihr aufstieg, die nicht mit dem Körper begann. „Ich habe dich vermisst, bevor ich dich kannte“, sagte sie.

„Das ist eine Form von Erinnerung“, antwortete er und lächelte, und mit dem Lächeln schob sich der Regen zurück, als wollte er ihnen den Blick nicht nehmen.

Sie sprachen wenig. Worte sind Schwerarbeiter, und die meisten lieben es, zu viel zu tragen. In diesem Zimmer jedoch waren Worte Gäste. Sie kamen, wenn sie gerufen wurden, und setzten sich, aßen ein Stück Stille, tranken ein wenig Blick, und gingen wieder. Mara erzählte von den Tagen, die sie mit Farbe gerettet hatte, von den Nächten, die sie mit Licht geflickt hatte, damit sie nicht an Angst zerrissen. Er erzählte von Wegen, die nicht auf Karten standen, von Türen, die in Innenhöfe führten, in denen niemand je gerufen hatte und doch jemand antwortete.

Manchmal schwieg er, und wenn er schwieg, hörte Mara den Klang der Stelle, an der sein Leben sich an ihres lehnte. Es klang nicht wie Musik und nicht wie Wind, eher wie ein Faden, der durch Stoff gezogen wird.

„Hast du einen Namen?“, fragte sie irgendwann, weil Namen kleine Boote sind, mit denen man über manche Gewässer gehen kann.

Er nannte einen. Es war ein einfacher Name. Aber als Mara ihn wiederholte, klang er anders, als würde das Zimmer ihn übersetzen in etwas, das näher an der Wahrheit war.

„Bleibst du?“, fragte sie, und in ihrer Stimme stand nichts als das, was war: eine Bitte mit offenen Händen.

Er sah zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber die Tropfen hingen noch am Glas wie Notizen, die man später lesen wollte. „Ich bleibe, solange das Licht dieses Zimmers mich hält“, sagte er. „Und vielleicht darüber hinaus.“

„Was, wenn das Licht erlischt?“

„Licht hat viele Formen. Du kennst sie alle.“

Sie standen auf, als wäre das die Bewegung, die das Zimmer erwartete. Er trat an die Leinwand und betrachtete sein Gesicht. Es war eine seltsame Intimität, sich selbst so zu sehen – nicht im Spiegel, der die Welt gewöhnt ist, sondern in einem Blick, der dich vorher kannte. Er berührte die Luft vor der Leinwand mit derselben Vorsicht wie sie zuvor.

„Du hast mich weich gemalt“, sagte er.

„Ich hatte keine andere Farbe“, sagte Mara.

Es vergingen Tage, an denen vergessen wurde, die Uhr aufzuziehen. Sie gingen durch die Stadt, ohne Straßen zu nehmen, als wären ihnen kleinere Wege erlaubt. In einem Café, das nie voll war, las er ihr in der Ecke vor, aus einem Buch, das beide nicht kannten und das doch an den richtigen Stellen die Stimme senkte. Abends kehrten sie ins Zimmer aus Licht zurück, und manchmal – manchmal – flackerten die Ränder der Realität so, als wollte die Welt sagen: Ich bin größer, als ihr mich glaubt, und ich gönne euch diese Nische.

Natürlich gab es den Tag, an dem die Angst kam. Angst hat ein gutes Gedächtnis und findet alle Zimmer. Sie kam nicht als Schrei, sondern als eine kleine Frage, die zu groß tat: Was, wenn er verschwindet, wenn du die Augen schließt? Was, wenn er ein Gast ist, der die Schuhe schon anhat?

Mara stellte die Frage nicht ihm, sondern der Leinwand. Sie nahm den Pinsel und setzte einen Strich, kaum sichtbar, an den Kragen seines Hemdes. Es war kein Besitzstrich, kein Fesseln. Es war ein Knoten, wie Seeleute ihn knüpfen, wenn sie wissen, dass Wellen kommen werden.

„Ich bin nicht aus Flucht gemacht“, sagte er, als hätte er ihren Pinselstrich gehört.

„Ich weiß“, sagte sie, und ihre Hände waren ruhig.

An einem Abend – der Himmel war violett, als hätte jemand in den Farbtopf gegriffen und sich dann die Finger an den Wolken abgewischt – brachte er eine Frage mit, die er nicht sofort stellte. Sie lag zwischen ihnen auf dem Tisch, dort, wo sonst Brot lag. Er sah sie an, Mara sah zurück, und was dann passierte, war so schlicht wie eine Tür, die geöffnet wird.

„Willst du mit mir bleiben, wenn das Zimmer seine Form ändert?“, fragte er. „Wenn wir nicht mehr wissen, ob die Welt unsere ist oder wir die Welt sind?“

Sie dachte an die Brücken ihrer Kindheit, an die Treppen ihrer Träume, an die Salzkörner auf der Fensterbank, an alles, was ein Zeichen gewesen sein könnte oder einfach nur die Schönheit einer zufälligen Anordnung. Dann nickte sie, und ihr Nicken war keine Entscheidung, sondern ein Erinnern: Ich habe schon Ja gesagt, lange bevor es Worte gab.

Sie gingen ans Fenster. Die Tropfen waren verschwunden, aber an ihrer Stelle klebte etwas anderes: kleine Krümel von Licht, als wäre der Tag an der Scheibe hängen geblieben. Er legte seine Hand neben ihre an das Glas. Das Glas wurde warm. Draußen begann die Stadt, leiser zu werden, und ein Wind stand auf, der nicht durch die Straßen ging, sondern durch die Jahre.

„Wenn wir gehen“, sagte er, „werden wir nicht die Tür schließen müssen. Das Zimmer wird bleiben, für andere, die Licht brauchen, so wie du es gebraucht hast. Und wenn wir bleiben, werden wir doch gehen, auf die Art, die den Ort größer macht.“

„Und die Liebe?“, fragte Mara. Sie stellte die Frage, weil Liebe gefragt werden will, nicht, weil sie zweifelte.

„Die Liebe“, sagte er, „ist kein Gast. Sie ist das, was die Stühle stellt.“

Sie blieben. Sie gingen. Sie taten beides, in der Weise, in der man einatmet und ausatmet, ohne die Welt zu verlieren. An manchen Tagen hatte das Zimmer zwei Stühle, an anderen vier, als würden Freunde kommen, die man noch nicht kannte. Manchmal leuchtete die Leinwand nachts ganz schwach, eine Erinnerung an eine Zeit, in der Licht die einzige Brücke war. Und wenn Mara die Hand ausstreckte, traf sie seine. Nicht, weil die Welt ein Wunder war, das man festhalten kann, sondern weil zwei Menschen beschlossen hatten, ein Wunder zu sein, das man lebt.

Später, viel später, fand jemand die Zeichnungen in einer Schublade: kleine Studien von Händen, die etwas Unsichtbares halten. Auf der Rückseite eines Blattes stand in Maras Schrift: „Ich male dich weich, weil alles Harte schon genug Namen hat. Und ich liebe dich so, dass die Welt daran wächst.“ Der, der es fand, lächelte ohne Grund, und vielleicht war das Grund genug.

Denn irgendwo, zwischen den Fenstern, in denen die Geschichten der anderen brannten, und dem Meeressalz auf einer alten Fensterbank, stand immer noch ein Zimmer aus Licht. Man konnte es nicht mieten, nicht kaufen, nicht verlieren. Man konnte nur hineingehen, wenn man den richtigen Namen bei sich trug – und manchmal reicht „Ich bin hier“.

Und wenn man dann fragte: „Wer stellt eigentlich die Stühle?“, antwortete die Stille: „Die Liebe.“

Atelier in Dämmerung: Leinwand mit leuchtendem Porträt, Kerzenlicht, warme goldene Stimmung – magisch-romantisch