DIE CHRONIKEN VON AERION
Die Chronistenwahl

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Autor
Marilia Grossmann -
ISBN-13
979-8299278125 -
Sprache
Deutsch -
Format
Taschenbuch, E-Book -
Verlag
KDP Kindle -
Abmessungen
12.7 x 2.34 x 20.32 cm -
Seitenanzahl
406 -
Erscheinungsdatum
22.08.2025 -
Kategorie
Fantasy / Dark Fantasy -
Serie
Band 1 -
Preis
€ 14,99 (Taschenbuch) / € 2,99 (E-Book) -
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In den Tiefen Aerions rumort die Erinnerung – und mit ihr erwacht ein neuer Ruf.
Irengrad steht am Scheideweg, die Stimmen der Alten hallen in den Hallen der Chronisten, und jeder Schwur kann das Schicksal der Welt neu entflammen. Doch wer würdig ist, den Weg der Chronisten zu beschreiten, entscheidet nicht allein das Volk, sondern die Macht der uralten Zeichen, die längst vergessen schienen.
Während Dunkelheit und Hoffnung einander umschlingen, treten die Gefährten vor Prüfungen, die nicht nur ihr Leben, sondern ihr Innerstes fordern. Ein jedes Wort, ein jeder Schritt wird Teil der Chronik, die Aerion weiterträgt – oder in den Abgrund stößt.
Episch, mythisch und von unheimlicher Bildkraft entfaltet Marilia Grossmann im zweiten Band ihrer Saga eine Geschichte voller uralter Geheimnisse, Stimmen und Schwüre. Für alle, die dunkle Fantasy lieben – poetisch erzählt und in einer Sprache, die wie aus einer anderen Zeit klingt.
Doch die Reise ist noch nicht beendet.
Mit Band III der Chroniken von Aerion wird das Schicksal weitergeschrieben – und Aerion offenbart, was noch im Dunkel ruht.
Für Fans von Tolkien, High- und Dark-Fantasy, mystisch-poetischer Erzählkunst und epischen Welten.

Ein Fantasy Roman von
Marilia GROSSMANN
Jenseits der Uhr, in jenem Raum, der nicht zählt und darum alles bewahrt, steht die Halle der Namen noch immer wie eine gemessene Stille im Herzschlag der Welt. Dort, wo die Ersten Schreiber ihre Hände in die Glut der Geburt hielten und die Asche der Möglichkeit an die Ränder der Wirklichkeit strichen, dort, wo jeder Laut, ehe er Mund wurde, am Atem der Flamme geprüft ward, dort sitze ich, ein Chronist, und lausche dem, was kein Ohr besitzt und doch in allen Ohren wohnt. Die Tafeln aus Stein, die Pergamente aus Schilf, die Häute aus Mondlicht – sie liegen in ihren Nischen wie ruhendes Wasser, und über ihnen schwebt die Krone, nicht gelegt auf eine Stirn, nicht begehrlich, nicht bekränzend, sondern wachend, gleich einem Ring aus Blick, der niemandem gehört und darum allen. Die Erste Flamme brennt, gedämpft wie ein Stern in Nebel, aber unzweifelhaft lebendig; ich sah sie schwächer, ich sah sie stärker, doch nie sah ich sie untreu werden; was treulos wird, sind die Hände, nicht das Feuer. Wer die Halle betritt, weiß es, manchmal erst, wenn er wieder hinausgeht: Hier ist das Herz Aerions, und doch ist es kein Herz aus Fleisch, sondern aus Namen, und Namen sind nicht Besitz, sondern Atem; sie dürfen nicht festgehalten werden, wie man eine Münze hält, sie müssen gesprochen und getragen werden, bis sie sich wandeln. Seit Luca, der Sohn des schweifenden Staubs, sein eigenes Lautbild der Flamme zurückgab und es darin nicht verlor, sondern verwandelte, seit jener Stunde hat etwas in dieser Halle die Richtung gewechselt. Nicht die Ordnung selbst, aber die Strömung der Ordnung. Es ist, als hätten die Strufen der Regale eine Unmerklichkeit an Tiefe gewonnen, als seien die Schatten der Bücher nicht mehr bloß Abbild ihrer Körper, sondern beginnende Wege. Ich habe in der Stille oft gehört, wie die Flamme spricht; nicht in Wörtern, nicht in Satz und Antwort, sondern in Wärmeschlägen, die dem, der lauscht, zu Einsicht werden, und dem, der hastet, zu nichts. Heute aber redete sie anders: in einer Beugung des Lichts, die selbst das Blinde sieht, wenn die Lider innen hell werden, und in einem leisen Ziehen aus Osten, einer Richtung, in der unsere Karten sich früher selbst ergänzten, als wir sie beschrifteten. Ich schreibe es, weil das Schreiben der einzige Ort ist, an dem das Denken sich selbst wiederfindet, und weil kein Chronist, der Chronist ist, in der Stunde eines Rufs schweigen darf, der nicht Stimme und doch Ruf ist. Es ist kein Wind. Es ist kein Tier. Es ist nicht einmal das Rauschen der großen Schneeströme, die zu Zeiten an den Säulen hinabfahren und alte Staubfäden aufwecken; es ist etwas, das klingt, ohne Geräusch zu sein, wie die Spur eines Schrittes auf Wasser, ehe der Kreis sich schließt. Die Krone, die über uns schwebt, senkte sich um eine Fingerbreit, und der Schatten, den sie warf, berührte die Ränder von sieben unbeschriebenen Tafeln zugleich. Das ist mehr als ein Zeichen, es ist ein Gericht. Wenn sieben leere Tafeln zugleich berührt werden, spricht die Halle: Es ist Zeit, neue Stimmen zu wählen. Nicht Stimmen der Lautheit, nicht Stimmen des Besitzes, nicht Stimmen der Erinnerung allein, auch nicht des Vergessens allein, sondern Stimmen, die die Brücke sind, über die beides gehen kann, ohne einander zu verletzen. Ich habe darüber gespart, seit ich in diese Hallen trat – gespart, nicht an Worten, sondern an Überflüssen –, dennoch muss ich bekennen: Heute fürchte ich das Überflüssige nicht, denn ich weiß, dass Worte zuweilen wie Brot sind: Man teilt sie, und je mehr Hände sich öffnen, desto mehr gibt das Brot sich her. So will ich, Chronist ohne Krone, aber unter der Krone, sagen, was ich sah, was ich ahnte, und was ich zu hören meine von jenem Osten, dessen Rand wir bisher nur im Mythos strichen. Denn es heißt, dort beginne ein Reich, das mit keiner unserer Sprachen deckungsgleich ist, ein Reich, dessen Zunge nicht Gegenwart bildet, sondern Gegenwart formt, indem es sie rückwärts erzählt, sodass der Tag, der eben anhebt, schon Legende ist, ehe er Licht wird. Wer hier sitzt, weiß, dass Legende nicht Lüge ist; aber er weiß auch, dass Legende sterben kann, wenn sie sich als Waffe kleidet. Ich nenne den Ruf, den wir vernahmen, nicht Stimme, und doch ist er eine. Er trug die Qualität eines Einschnitts, nicht wie eine Klinge in Fleisch, eher wie eine Falte in den Satz, in der das Wort sich neu entscheidet, von wo aus es klingen will. Ich sah Mira Dornkind, in der Erinnerung, die nicht Vergangenheit, sondern Nachhall ist, stehen zwischen zwei Reihen von Lampen, die nicht Flammen, sondern Namen trugen, und ich sah, wie sie zögerte, weil in ihr nicht nur die Schrift der Welt wohnte, sondern auch ihr Schweigen. Sie hat den Brunnen der Unbenannten gesehen, nicht als Werktag, sondern als Gewitter; sie hat die Felder des Schweigens durchschritten und dort gelernt, dass Knien zuweilen ein lauterer Stand ist als Stehen; sie hat Städte ohne Sicht besucht und doch die Gestalt der Dinge geahnt, weil man mit dem inneren Ohr sehen kann, wenn das Auge nichts mehr findet. Sie kehrte nach Irengrad zurück, so weiß ich, nicht als das Kind, das sie in den Leeren Zeilen war, sondern als die, die durch die Maskenhalle ging und nicht an den Masken zerbrach. Doch der Ruf, der uns heute erreicht, fordert nicht allein Mira. Er fordert die Halle, uns alle, und in uns die Frage, die wir zu lehren gewohnt waren, aber seltener zu leben: Wer darf Chronist sein? In den alten Zeiten war diese Frage keine, sondern eine Form, wie der Regen keine Frage ist für Erde, die Durst hat. Doch die Welt hat sich in der Zunge gedreht. Seit jene Bünde der Schatten, die wir nur notdürftig banden, wieder zuckte, wie eine Narbe bei Wetter, seit Stimmenräuber in Kristallen fremde Laute gefangen hielten, seit man in der Nacht der Verblendung den Freund für den Fremden hielt, sind Wahlen nicht mehr die alten Wege. Sie sind Kämpfe, und sie sind Eide, und sie sind das stille Niederlegen eines Wortes in die Flamme, nicht um es zu töten, sondern um es wahr zu machen. Ich sah, wie die Erste Flamme heute Morgen die Farbe wechselte, nicht wie Blut, nicht wie Gold, nicht wie Asche, sondern wie all das zugleich: Es war das Rot, das den Mut brennt; das Gelb, das Erinnerung warm hält; das Grau, das das Vergessen umgibt, damit es nicht giftig wird. Wer glaubt, Vergessen sei Feind, hat nie einen Namen getragen, der zu schwer ist. Wer glaubt, Erinnerung sei Gott, hat nie den Irrtum liebgehabt, der uns Mensch sein lässt. Ich schreibe dies, damit, wenn die Wahl beginnt, niemand sagen könne, die Halle habe geschwiegen. Sie schweigt selten, auch dann, wenn die Zungen laut sind. Und ich schreibe es, weil ich das Ost-Lied in mir trage wie eine Unruhe, die nicht böse und nicht gut ist, sondern wie ein Wetter, das man rechtzeitig decken muss, wenn das Brot im Ofen gelingen soll. Aus Osten, sagen manche, kommt immer das neue Licht; aus Osten, sagen andere, kommt der Schatten schneller, weil die Berge niedriger sind. Wir haben für beides Belege, und das ist unsere Mühe: Die Welt zeigt ihre Zeugnisse in Mehrzahl, und Chronisten, wenn sie recht sind, verlieren sich nicht an ein einziges, sie tragen die Vielheit, bis sie Ton wird. So höre: Im Osten setzt eine Sprache an, die will nicht nur erzählen, was ist; sie will befehlen, was war. Das ist der Unterschied. Wer die Vergangenheit mit Zunge schmiedet, kann die Gegenwart in Ketten legen. Darum müssen Stimmen gewählt werden, die nicht nur bewahren, sondern widerstehen; nicht nur schreiben, sondern schweigen im rechten Moment; nicht nur nennen, sondern auch den Mut haben, einen Namen zu lassen, wenn er nicht gesprochen werden will. Jeder, der in die Halle tritt, wird geprüft, sagt man. Doch selten sagen wir: Auch die Halle wird geprüft. Heute ist so ein Tag. Ich sehe in den Nischen ein Buch, dessen Ledereinband wie Regen glänzt, obwohl kein Wasser ihn berührt. Es ist das Buch ohne Zeichen, das vielen blank erscheint und manchen üppig bemalt. Auch ich habe darin gelesen, und das Lesen war eine Wunde und eine Heilung zugleich; was man hineinlegt, sieht man heraus. Wer lügen will, findet Glanz; wer sich findet, findet Maß. Dass die Krone heute den Schatten auf sieben Leeren warf, heißt: Die Plätze der neuen Chronisten sind leer, aber nicht leer aus Mangel, sondern aus Erwartung. Die Wahl ist kein Rat, es ist eine Antwort. Damit wir antworten können, müssen wir gefragt sein, und der Ruf ist die Frage. Ich beuge mich, nicht vor der Krone, nicht vor der Flamme, auch nicht vor den Tafeln – ich beuge mich vor der Möglichkeit. Denn Möglichkeit ist das unsichtbare Land, das wir durch Wahlen sichtbar machen, oder zerstören, wenn wir lieblos sind. Mira, du wirst dies lesen, und vielleicht wirst du nicht wissen, dass ich dich bei Namen nenne, ohne den Faden deiner Schritte zu zerren. Du bist eine von den Stimmen, die die Halle hörte, da du noch nicht wusstest, was eine Halle ist. Geh. Kehre zurück. Steh in den Lampenreihen, in denen die Namen wie mählich erwachende Sterne brennen, und nimm den Platz ein, den dir nicht eine Hand, sondern der Atem gibt. Du wirst nicht allein sein. Männer und Frauen werden kommen, die man nie sah und doch kennt, weil die Welt in jeden von uns eine Zeile schrieb, als wir zum ersten Mal die Augen öffnen durften. Nicht alle werden wohlwollend sein. Nicht alle werden wissen, dass sie sich fremd gemacht haben in ihrer Jagd nach einem Titel, der, wenn er recht getragen ist, gar kein Titel ist, sondern ein Dienst. Ich schreibe dies aber nicht, um zu warnen, sondern um zu bezeugen. Denn Warnung ist etwas, das von oben herabgerufen wird, und Bezeugung ist das, was neben dir geht, wenn du fürchtest, zu fallen. Und ich, der ich schreibe, weiß um das Fallen. Es gab Zeiten, da ich glaubte, ein gutes Wort rette eine Welt. Ich habe gelernt: Manchmal rettet ein verschwiegenes Wort mehr. Manchmal rettet ein Name, den man nicht ruft. Manchmal rettet der Mut, das Buch zu schließen, ohne es zu verbrennen. Doch heute, heute ist kein Tag für Schließen. Heute ist ein Tag für Öffnen. Ich werde die Türen der Halle aufstoßen lassen, nicht mit Lärm, sondern mit jenem Wind, der aus der Flamme hervorgeht, wenn sie einatmet. So werden die Schritte derer, die kommen, nicht stolpern, und ihre Schatten werden lang sein, und in den Schatten werden Tiere gehen, die wir aus Geschichten kennen: die Schattenfeder, die Lüge im Kleid eines Vogels; die glasigen Aalzungen, die Stimmen rauben und in Kristallen verkrallen; das scheue Schweigen, das, wenn es sich sanft auf eine Wunde legt, nicht drückt, sondern heilt. Ich werde die Glocken ohne Stimme erinnern, die einmal läuteten, indem sie schwiegen; und ich werde jene hinzufügen, die nie hingen, aber in den Herzen derer schwingen, die vergessen wurden. Vergessen ist nicht Verloren. Vergessen ist ein Wald, den man nicht mit Fackeln betreten darf, sondern mit Händen, die rindenkundig sind. Und Erinnerung ist kein Turm, auf dessen Spitze man Fahnen bindet, sondern ein Fluss, den man in Zeiten der Dürre nicht ausschöpfen darf, weil die Nacht noch kommen kann. Wenn ich heute sage: Die Wahl wird beginnen, so meine ich nicht: Heute wird entschieden. Entscheidungen sind die Augenblicke, in denen die Hand begreift, was das Herz längst wusste. Bis dahin ist der Weg. Und der Weg ist, was die Welt für uns schreibt, wenn wir nicht hinschauen. Darum schaue, Mira, und ihr, die ihr kommt aus den Tälern von Irengrad und den Hügeln jenseits des Westwassers, aus den Ebenen der Märwiesen und den Dörfern am scharfblauen Rand der Nordklippen. Kommt aus der Stadt der Schattenfedern, in der man die Federn wie Münzen tauscht, und bringt die, die ihr aufhobt, nicht um zu prahlen, sondern um sie zu reinigen am Atem der Halle. Kommt aus den Östlichen Grenzlanden, in denen der Boden so gespannt klingt, als wäre unter ihm eine Saite, die die Welt nicht zu spielen wagt. Kommt aus dem Turm der Schweigenden, und fürchtet euch nicht, dass das Schweigen euch verschlinge; die Flamme hört auch, wenn ihr nicht sprecht. Kommt aus den Kammern des geteilten Lichts, in denen der Blick sich doppelt und eure Selbste euch fremd erscheinen; ihr müsst nicht ganz sein, um wahr zu sein. Ich habe die Liste der alten Anwärter studiert, jene Register, in denen jeder, der jemals Chronist werden wollte, einen Schatten zurückgelassen hat. Manche Schatten sind leicht, als wären sie vom Morgenrot gezeichnet, manche schwer, als wären sie vom Mittag in den Grund gedrückt. Ich weiß, dass ich die Namen dieser Schatten nicht alle kenne, und vielleicht soll ich sie nicht kennen; denn was einmal verfehlte, muss nicht ohne Ende erinnert werden. Doch was sich jetzt erhebt, ist keine Wiederholung. Es ist keine Rückkehr in ein altes Gehege. Es ist, wenn ich den Mut habe, es so zu nennen, ein neuer Stil der Welt, ein anderer Maßstab, in dem die Töne sich ordnen. Nicht besser, nicht schlechter – neu, und darum gefährdet, weil Neues immer die Anfängerkrankheit des Hochmuts hat, oder die des Schreckens. Wer heute berufen wird, wird beides kennen lernen: die süße Versuchung, sich unentbehrlich zu wähnen, und die bittere Angst, zu wenig zu sein. Die Halle wird beide Versuchungen prüfen wie Metall in Wasser. Ich werde dabeistehen, nicht mit einem Stab, nicht mit einem Siegel, sondern mit diesem Federkiel, der mehr Schwerter gesehen hat, als ihm lieb war, und mit dieser Schale aus gebranntem Lehmpfennig, in die ich die Asche von Sätzen streue, die ich verwarf. Aus dieser Asche wird das Grau, das die Ränder unserer Wahrheit beruhigt, wenn sie zu scharf werden. Und wenn der Ruf aus dem Osten, dessen Laut ich in meinen Knochen vibrieren fühle, wirklich das ist, was ich fürchte – nämlich kein Lied der Erinnerung, sondern eine Erzählung, die sich rückwärts regiert –, dann wird unsere Wahl die erste Mauer sein, an der sich ihr Echo bricht. Mira, es ist möglich, dass du glaubst, du wärest zu jung, um das zu tragen, oder zu alt, um das Neue zu sehen. Das eine ist Täuschung, das andere ist Müdigkeit. Jung ist, wer noch fragen kann; alt ist, wer die Frage nicht verachtet. So geh und frage, und verachte nicht, wenn andere anders fragen. Luca hat seinen Namen eingelegt in die Flamme; er ist nicht weniger geworden, er ist anders geworden. Du wirst seinen Atem spüren, wenn du vor dem Becken der Wahl stehst und die Finger ins Licht tauchst; und das Licht wird nicht heiß sein, es wird genau so warm sein, wie du es aushältst. Wer anders behauptet, will dich schrecken. Fürchte dich nicht vor denen, die groß reden; fürchte dich vor denen, die leise Worte haben, die wie Klingen sind, weil sie kein Blut zeigen. Die Schatten, die vom alten Pakt übrigblieben, werden versuchen, den Namen der Wahl zu lädieren. Sie werden sagen: Wählt die Lauten, denn die Lauten sind die Welt; oder sie werden sagen: Wählt die Stillen, denn nur die Stillen sind rein. Beide lügen, weil sie trennen, was nie getrennt war. Laut und leise sind die zwei Flügel des gleichen Vogels; er fliegt nur, wenn beide schlagen. Wenn ich die Feder hebe, um diesen Satz zu setzen, höre ich die Flamme atmen, und die Krone senkt sich abermals um einen Finger, als wolle sie uns nicht drohen, sondern erinnern. So sei erinnert: Die Wahl der Chronisten ist nicht das Recht der Wissenden über die Unwissenden, es ist der Dienst der Hörenden an der Welt, die oft nicht weiß, dass sie gehört werden will. Und du, Osten, den ich nicht kenne und doch nenne, du ungesprochenes Reich aus Faltung und Widerklang, ich schreibe deinen Rand in diese Zeile, nicht um dich zu bannen, sondern um uns zu prüfen. Tritt näher, wenn du musst. Wir werden dich nicht verfluchen, wir werden dich nicht verehren; wir werden dich hören. Denn das ist der erste und letzte Eid dieser Halle: zu hören, ehe wir sprechen, und zu sprechen, wenn Schweigen Schaden brächte. So seien die Türen geöffnet. So sei der Ruf gehört. So seien die sieben Tafeln nicht länger bloß Stein. Und so sei die Nacht, die kommt, keine Angst, sondern die Decke, unter der die Flamme ihren Atem sammelt. Wer dich trägt, Aerion, trägt nicht eine Krone, trägt nicht ein Schwert; er trägt eine Stimme, die nicht ihm gehört, und er weiß darum. Ich, der ich dies schreibe, lege die Feder nieder und lege meine Stirn an den kühlen Rand der Schale. Es riecht nach Lehm, nach Asche, nach einer ganz kleinen Spur von Harz. Draußen hebt es an zu dämmern, auch wenn hier kein Draußen ist; und in diesem Dämmern höre ich sie: Schritte, einzeln, dann zwei, dann viele, und die Halle antwortet mit einem Ton, den nur die Steine sprechen können. Es ist die Stunde. Die Chronistenwahl beginnt..